Irgendwie paßt es so schön:
Ich bin mehr unterwegs als zu Hause. Und ich vermute, das neunzig Prozent aller Unfälle nicht zufällig, sondern zwangsläufig passieren. Einer Granate, die abgefeuert wird, bleibt ja auch nichts anderes übrig, als irgendwo einzuschlagen. Falls Sie weiterlesen, werden Sie verstehen, wie ich das meine. Der Durchschnitts-Autofahrer von heute ist prospektgläubig. Er glaubt blindlings, daß sein Auto schnell, sicher und unfehlbar ist. Und er vergißt völlig, daß sein Auto nur das macht, was er ihm befiehlt. Von ihm selbst steht aber nichts im Prospekt. Wenn er ein Trottel ist, ein Depp ein damischer, dann müßte im Prospekt seines Autos stehen: "Mit diesem Auto werden Sie viel Ärger haben, eine Menge Motor - und Blechreparaturen und wahrscheinlich auch einen gepfefferten Unfall." Oh, wie würde er dann auf dieses Auto schimpfen und sich von ihm zurückziehen.
Ein Auto kann nicht besser sein als sein Fahrer, schon gar nicht im Ernstfall. Und der Ernstfall hängt in jeder Sekunde über uns an einem morschen Faden. Nur glaubt das niemand. Im Prospekt stand nichts davon. Im Prospekt steht, man kann mit dem Ding 148 km/h fahren. na bitte! Ehe ich zur Sache komme, will ich noch die Indianer erwähnen, und die Schafhirten, und die alten Bauern. Sie rochen den nahenden Frost, den Regen, den Nebel und den ersten Schnee. Und sie richteten sich darauf ein. Sie lebten nach dem heute vergessenen, aber noch immer gültigen Grundsatz: Zuerst kommt die Natur, und dann kommen wir. Und die Autofahrer von gestern glichen ihnen. Sie hielten die Nase ins Wetter, respektierten Nebel und Glatteis und machten gar nicht erst den Versuch, unter Berufung auf einen bunten Automobilprospekt dagegen anzurennen. Dadurch unterschieden sie sich ganz erheblich von der Masse der heutigen Autofahrer. Sie fuhren mit Verstand und mit Instinkt. Sie wußten, das die Umstände stärker sein können als ihr Auto. Und daß das Auto nicht mit einem fährt, sondern daß man das Auto fährt. Das ist eine Tätigkeit, die man nicht mit halbem Auge oder Ohr, und schon gar nicht mit halbem Verstand tun darf. Heute erst recht nicht.
Aber...
Ich will Ihnen die Geschichte eines einzigen Abends erzählen, den ich vor einigen Tagen erlebte. Es ist eine ganz wahre Geschichte, so leid es mir tut. Mir wäre es viel lieber, sie wäre schlecht erfunden, denn dann wäre noch Hoffnung. Aber die Verrückten sind wirklich unter uns.
Die Alitalia-Maschine, Flug Nummer zwoo-zwoo-sechs, befand sich aus Milano kommend, etwa eine halbe Stunde vor Stuttgart. Da bestellte der Herr, der halblinks vor mir saß, zu dem Schinkensandwich und den paar Keksen, die als Abendimbiß gereicht worden waren, eine halbe Flasche Rotwein. Er trank sie aus, und dann ließ er sich noch einen Whisky-Soda kommen. Warum auch nicht, werden Sie denken. Und mir wäre das auch völlig egal gewesen, trotz der merkwürdigen Mischung, wenn ich den Herrn nicht wiedergesehen hätte. Noch, als er beim Whisky war, mußte er sich anschnallen, weil die Maschine zur Landung ansetzte. Es war naßkalt, finster, und es schneite wässrig. Als ich mein auf dem Parkplatz für Fluggäste abgestelltes und seit Tagen durchgefrorenes Auto bestieg, sah ich den Herrn wieder. Er schlüpfte in einen BMW 1800, der nicht minder durchfroren aussah als mein Wagen.
Er startete den Motor, und als ihm dies eben gelungen war, trat er schon mit schwerster Sohle und rhytmischen Bewegungen das Gaspedal auf und nieder, auf und nieder. Der eiskalte Motor heulte ohne Öl in den Adern rauf und runter, und immer, wenn er ganz oben war, schrie er gequält auf.
In diesen Minuten alterte er bestimmt um einige tausend Kilometer.
"Dieser Mann muß für seine BMW-Werkstatt ein Alptraum sein", dachte ich. Dann fuhr er zum Pförtnerhaus, um da seine Parkgebühr zu bezahlen. Dabei standen die Scheinwerfer seines Autos auf Fernlicht. Der Pförtner ging geblendet, eine Hand vor den Augen, darauf zu. Und die Leute, die kamen, um ihre Autos abzuholen, bedeckten ebenfalls ihre Augen.
Aber das focht den Herrn, der seinen Motor noch immer auf - und abbrüllen ließ, nicht an. Er zahlte und stob danach mit ausbrechendem Heck davon.
Auch ich startete, aber der BMW war aus Tübingen, und der Herr mit der halben Flasche Rotwein und dem Whisky-Soda im Bauch würde meine Bahn nicht kreuzen, denn ich wollte gen Ulm fahren, und von da noch ein Stückchen weiter Richtung Friedrichshafen. Ich sah ihn zum Glück auch nicht wieder.
Aber das tut dieser Geschichte keinen Abbruch, denn dieser Herr schien der repräsentative Querschnitt derer zu sein, die an diesem Abend mit ihrem Auto unterwegs waren. Nur, daß die eine ganze Flasche Rotwein und zwei Whisky-Soda im Bauch zu haben schienen. Und daß sie vielleicht, was das Auto angeht, noch ein bißchen dümmer waren.
Sie schossen im Nebel mit vollem Zahn an mir vorbei, ins Nichts hinein. Ich erlebe das immer wieder, und es fasziniert mich immer wieder.
Ich denke stundenlang darüber nach, was in diesen Menschen vorgeht, die nichts sehen können und den Fuß dennoch nicht vom Gaspedal nehmen. Mag sein, daß sie die Autobahn überschätzen. Sie meinen, die ginge ohnehin geradeaus und wäre ohne Gegenverkehr. Aber sie vergessen, das mitten auf ihr, vom Nebel umhüllt, irgend etwas stehen oder liegen kann - ein Autowrack, oder zwei oder drei, und daß sie dann Nummer vier sein werden. Keine Bremssystem der Welt könnte das verhindern! Schon garnicht an diesem Abend, an dem die Bahn naß und schwarz und manchma lzentimeterhoch voll Schneematsch war.
So mutig wie diese Leute bin ich nie, ich gestehe es, ohne zu erröten - und auf die Gefahr hin, das ich nun in Ihren Augen ein Feigling bin.
Aber dann hörte der Nebel auf. Nebel fühlt sich in der Nähe eines Flughafen am wohlsten. Jeder, der viel fliegt, wird mir da recht geben. Es schneite nur noch halb getaute Flocken, und es war pechschwarz da, wo nichts hinleuchtete. Ich drehte ein paar Zähne auf, machte auch eine Bremsprobe und legte noch ein paar Zähne dazu, blieb aber skeptisch.
Denn die Temperatur kroch so um Null herum, daß man auf alles gefaßt sein mußte. und plötzlich, so, als hätte jemand begonnen, den naß-schwarzen Beton weiß anzumalen, begann der Schnee liegen zu bleiben.
Ich nehme an, Sie wissen, was das bedeutet: In den höheren Lagen ist es kälter, in den unteren braut feuchtschwangerer Nebel, aber oben friert´s. Man muß kein Indianer sein und nicht über tausend Schafe gebieten, um das zu wissen. Ich nahm das Gas so gefühlvoll zurück, wie die Hand von einer Dame, die eben eingeschlafen ist. Und im Hintern fühlte ich jenes schwimmende Schweben, das dem aufmerksamen Fahrer anzeigt, wie sich der Haftbeiwert der Straßendecke verschlechtert. Ich gab mich mit sechzig zufrieden und schaltete das Radio aus.
Da schoß mit wahrscheinlich hundertzwanzig oder auch mehr ein weißes Rekord-Coupe´ an mir vorbei ins dichter und weißer werdende Schneetreiben hinein.
Wieder einmal war ich versucht, mich für feige zu halten und die segensreiche Wirkung von Spikesreifen auf Fremdfahrzeugen überzubewerten, als ich die frische Spur des Opel im weißen Schnee sich krümmen sah. Sie wand sich wie ein Wurm nach rechts und nach links und wieder nach rechts, und da verschwand sie am rechten Autobahnrand in der Finsternis.
Das ist der Augenblick, in dem man unweigerlich "dran" ist - jetzt muß man anhalten, helfen, seine Zeit opfern, sich und sein Auto verschmutzen, jetzt muß man Mensch sein und den Nächsten, dem man am liebsten ein paar runterhauen möchte, mehr lieben als sich selbst.
Er hat einen Anspruch darauf, diesem Verrückten sind Sie jetzt haushoch verpflichtet! Vergessen Sie das nie! Er könnte Sie sonst in die BILD-Zeitung bringen, als Schlagzeile. Es hätte zwar auch sein können, daß er in Sie hineingeschleudert wäre und Sie ausgerottet hätte, aber das tut nichts zur Sache und wirkt auch für Sie weder seelisch noch juristisch entlastend aus. Jetzt sind Sie der Bergsteiger , der in die Wand muß, um den rauszuholen, dem alle abgeraten hatten, gerade jetzt aufzusteigen. Er tat es dennoch, um Ruhm und Illustriertenhonorare zu ernten, und der brave Bergführer, der bei dem Versuch, ihn zu retten, sein Weib zur Witwe macht, stirbt in vorbildlicher Pflichterfüllung. Würde man den Kerl aus der Wand holen, um ihn öffentlich Ohrfeigen zu können, wäre das schon der Mühe wert. Das gebe ich zu.
Aber so ist es nicht.
Noch heute versuche ich, den Schlamm aus meinen Autopolstern herauszukriegen, und es ist noch fraglich, ob es mir vollständig gelingt.
Das Auto lag tief drin in einem Acker, der nur an der Kruste zart angefroren, im übrigen aber so weich war, daß ich Mühe hatte, mit meinen Füßen auch stets die Schuhe herauszukriegen, wenn ich einen Schritt machte. Zwanzig Schritte von dem Auto entfernt lag eine junge Dame. Sie war rausgeflogen, weich gelandet, glich jedoch einer ungebrannten Lehm-Statue. Den Mann zog ich aus dem Schiebedach heraus. Sie waren beide leichenblass und stark geschockt. Die junge dame schüttelte sich in Weinkrämpfen, und der Mann redete ein bisschen irre. Sonst schienen sie mir unversehrt.
Was nun? Ich weiß, nun soll man sie am Straßenrand betten, auf der Seite liegend, denn sie könnten innere Verletzungen haben. Aber es war eiskalt, es schneite immer dichter, und ich hätte sie im Schlamm betten müssen. Es hielt auch kein Auto an, weil keiner sehen konnte, daß auf dem dunklen Acker etwas los war, und weil ich kein Auto anhielt. Die schleuderten so schon verhalten vor sich hin, und hätte ich sie noch dazu verleitet, auf die Bremse zu steigen, wäre der Acker bald überfüllt gewesen. Ich packte die beiden also in meinen Wagen und fuhr sie nach Ulm-West zu den Kasernen, deren Wachlokal als Unfallmeldestelle gekennzeichnet ist. Dort lud ich sie aus, und nur der Schlamm blieb drin, hier und da zehn Zentimeter hoch. Von der Autobahnausfahrt Ulm-West habe ich noch 75 km bis nach Hause. Und ich sah noch dies und jenes: Leute versuchten, ihr Auto aus dem Graben zu zerren, ein wahres Feuerwerk aus zuckenden Blaulichtern umstand einen dunklen, großen Blechhaufen, der sich aus einem Lastwagen und zwei Limousinen zusammensetzte und kaum noch zu gebrauchen war, und einem, der mir in einer Kurve auf allen vieren entgegengeschlittert kam, entging ich mit knapper Not. Aber ich kam gut zu Hause an. Es war im Grunde überhaupt kein Problem gewesen, gut anzukommen. Man braucht dazu nur ein bißchen Verstand, mehr nicht. Aber ich habe das Gefühl, Verstand ist knapp, Instinkt verkümmert, und Autofahren macht blöde.
Du meine Güte, das Beste hätte ich beinahe vergessen!
Als die beiden Leutchen aus dem Rekord-Coupé wieder soweit bei Kräften waren, daß sie mit sich reden konnten (mich nahmen sie als selbstverständlich hin) sagte sie zu ihm:
"Eigentlich bist du schuld. Wenn du nicht gesagt hättest, ich solle nicht so schnell fahren, hätte ich nicht gebremst, und dann wäre das sicher nicht passiert."
Genau so war´s, Sie können es im Zweifelsfall nachprüfen. Das weiße Rekord-Coupé war aus Kaufbeuren.
Da läßt ein ausgewachsener Mann bei solch einem Sauwetter seine Verlobte fahren. Und die tritt bei Glatteis auf die Bremse, weil er Bedenken äußert. Das kann Ihnen, wenn Sie auf der Gegenfahrbahn daherkommen, daß Leben kosten.
Ob der Herr aus Tübingen etwas angerichtet hat, vermag ich nicht zu sagen. Aber er sah ganz danach aus, und er brachte alle Voraussetzungen dazu mit.
Einer, dessen Job es ist, Füherscheine einzusammeln, hätte an diesem Abend reiche Ernte halten können. Und so sehr ich das Auto liebe, ich hätte ihn gern dabei unterstützt.
von Fritz B. Busch , "Verstand wird knapp" 1970
Freitag, 31. Dezember 2010
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